Liebe Forumsmitglieder,
hier mein Diskussionsbeitrag zur Natter und deren Ausrüstung:
Um die Ausrüstung der Natter verstehen zu können, muss man sich erst einmal das Einsatzspektrum genauer ansehen:
1. Die Natter war als Verlustgerät gedacht. Wieder verwendbar waren lediglich (neben dem Piloten natürlich
) das wertvolle Triebwerk und die nicht minder kostbare Kurssteuerung nebst Funkausrüstung, welche sich im Heck der Maschine befanden. Die komplette Bugsektion mit Waffenrost und Instrumentenbrett wurde jedes Mal zerstört. Das implementiert beinahe von selbst, dass dieser Teil so kostengünstig wie möglich gestaltet wurde, was auch die Instrumentierung betraf.
2. Der Flug der Maschine sollte im Einsatzfall fast komplett automatisch ablaufen. Der Kurs sollte von der Bodenleitstelle nach Funkmessdaten (ähnlich wie bei der Flak) vorgegeben werden. Nachdem der Startbefehl erteilt wurde, startete der Pilot das Triebwerk, regelte es auf vollen Schub, nahm die Hände an die beiden Haltegriffe im Cockpit und zündete dann die Startraketen. Erst bei erreichen einer bestimmten Höhe und Entfernung hinter dem Ziel, schaltete der Pilot die Automatik aus, flog den Angriff von hinten unten, leitete danach den Absetzsturz ein, fing die Maschine bei einer bestimmten Sicherheitshöhe ab und leitete dann die Trennung ein. Dieser automatisierte Flug erforderte natürlich eine automatische Kurssteuerung über alle Ruder.
Um die Materialverluste also in Grenzen zu halten, wurden nur die zwingend nötigen Instrumente eingebaut.
Der Fahrtmesser war nötig, um zum einen den ordnungsgemäßen Aufstiegsflug zu überwachen (flacherer Winkel = Geschwindigkeitserhöhung) und zum anderen, um die richtige Geschwindigkeit für den Trennvorgang zu fliegen.
Der Höhenmesser war nötig, um zum einen die richtige Höhe zu kontrollieren, um die Automatik auszuschalten und zu anderen, um die Sicherheitshöhe für den Trennvorgang zu erreichen.
Der Drehzahlmesser und die Ofendruckmesser waren nötig, damit der Pilot das Triebwerk auch sicher auf Vollschub bringen konnte und danach die ordnungsgemäße Funktion überwachen konnte.
Auf ein Variometer konnte man in diesem Fall verzichten, da es keine neuen Erkenntnisse über den Flug geliefert hätte. Zur Kontrolle des ordnungsgemäßen Aufstiegs reiche auch der Fahrtmesser.
Bleibt noch die Überwachung der Fluglage: Ein Wendezeiger hätte zwar funktioniert, jedoch überwacht er nur Bewegungen um die Hochachse und bedingt um die Längachse (Libelle).
Die Natter bewegte sich aber sozusagen im dreidimensionalen Raum, also reichte das nicht aus. Ein Wendehorizont war besser, jedoch hier nicht geeignet, da die damals existierenden Geräte allesamt bei Abweichungen von mehr als 90° von der Normalfluglage ihren Dienst quittierten. Also musste wohl ein neues Gerät geschaffen werden, welches dem Piloten möglichst anschaulich die Kurstreue der Maschine signalisierte. Diese Überlegung führte dann wohl zu dem Kreiselgerät mit den zwei Balken, welches mit der Kurssteuerung verbunden war.
Nun noch ein paar Sätze zum Unglücksflug von Lothar Sieber:
Der offizielle Unfallbericht vertritt zwar die Ansicht, dass das abfallende Kabinendach den Piloten bewusstlos machte oder gar tötete, jedoch wenn man sich die Faktenlage genauer betrachtet, kann das so nicht ganz stimmen. Vermutlich wurden die wahren Hintergründe geflissentlich vertuscht, um das Projekt nicht zu gefährden oder zu verzögern. Ein nicht gut verriegelnes Kabinendach war schnell zu korrigieren und ein getöteter Pilot erklärt ganz bequem den Rest des Unfallverlaufes. Wären jedoch ernsthafte Konstruktionsmängel ans Licht gekommen, hätte die Sache schon anders ausgeschaut. Die SS hatte ja das Sagen in diesem Projekt übernommen und versuchte es um jeden Preis voranzubringen.
Wer die beiden Bücher von Horst Lommel über die Natter gelesen hat, wird mir Recht geben, dass der tatsächliche Verlauf wohl etwas anders war.
Zunächst ist wichtig zu wissen, dass Sieber auf eine Handsteuerung der Maschine bestand; die Automatik also zu keinem Zeitpunkt im Spiel war. Wodurch ein Versagen dieser auch ausscheidet. Auch spricht einiges dafür, dass Sieber wohl während des ganzen Fluges bei Bewusstsein war. Oder hat schon jemand einen bewusstlosen Piloten kontrollierte Steuerbewegungen ausführen sehen, was nachweislich geschehen ist?
Mann muss auch wissen, dass Sieber nicht irgendein x-beliebiger Freiwilliger war, sondern sich bereits einen gewissen Ruf als Pilot für schwierige Einsätze erflogen hatte. Er war es z.B. der den total überladenen Storch mit Mussolini an Bord vom Grand Sasso startete.
Auch muss man wissen, dass der gesamte Unfallflug, von Start bis Aufschlag nur etwas weniger als eine Minute dauerte; es blieb also nicht viel Zeit für irgendwelche Überlegungen des Piloten.
Nach Auswertung der spärlichen noch existierenden Fakten und der Augen- und Ohrenzeugen, verlief das ganze wohl so oder ähnlich:
Es begann damit, dass eine der Hilfsraketen nicht abfiel, was eindeutig durch das Auffinden dieser im Aufschlagtrichter bewiesen ist. Danach versuchte Sieber wohl die Rakete abzuschütteln, da er deutliche Wackelbewegungen ausführte. Als das nicht gelang, bekam er wohl die Anweisung, den Flug abzubrechen, wozu er die Kabinenhaube bewusst abwarf.
Er bemerkte aber dann wohl, dass die Maschine noch einwandfrei zu steuern war und setzte den Flug fort. Die damals sehr tief hängende geschlossene Wolkenuntergrenze war dann wohl der Auslöser für den Unfall. Nachdem er die Maschine in einen sehr steilen Aufstiegswinkel in Rückenlage brachte (ähnlich wie das auch heute noch das Spaceshuttle macht), verschwand er in den Wolken. Dort muss er offensichtlich einen Geschwindigkeitsanstieg bemerkt haben, was er durch ziehen ausgleichen wollte. Da er sich aber im Rückenflug befand, bemerkte er seinen Fehler wohl erst, als er fast senkrecht nach unten aus den Wolken wieder herauskam. So kurz über dem Boden und mit einer Geschwindigkeit nahe Mach 1 oder evtl. sogar darüber (Beobachter berichteten danach von 2 Detonationen, eine deutlich vor dem Aufschlag), konnte er die Maschine nicht mehr abfangen und versuchte evtl. sogar noch auszusteigen, was der Fund der abgetrennten Gliedmassen einer Körperseite wohl zu vermuten Anlass gibt. Das gelang ihm aber natürlich nicht mehr und so schlug er fast senkrecht ein paar Kilometer von der Startrampe entfernt auf.
Wäre ein solcher Unfallverlauf damals publik geworden, hätte das sicherlich zu extrem unangenehmen Fragen geführt und ziemlich sicher zu einer kompletten Überarbeitung einiger Baugruppen Anlass gegeben.
Ich freue mich auf angeregte Diskussionen.
Gruß,
Harald